Rezensionen
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Falls ich da war, habe ich nichts gesehen von Michela Marzano
Michela Marzano ist überzeugt, dass ihre Familie immer links war. Sicher Großvater Marzano saß für die monarchistische Partei im Parlament, aber das macht ihn ja noch lange nicht zum Faschisten … dachte sie, bis sie auf der Taufurkunde ihres Vaters entdeckt, dass er 1936 neben so einigen anderen Namen auch den Namen Benito erhielt. Sie beginnt Fragen zu stellen und entdeckt, dass ihr Großvater Mussolini Anhänger der ersten Stunde war und unter dessen Regime Karriere gemacht hat. Ihre Reise in die Vergangenheit ihres Großvaters und die Auseinandersetzung mir ihren Eltern, ihrer Kindheit und allem was sie in der Gegenwart noch belastet, startet und scheint, erst einmal, mehr Fragen als Antworten aufzuwerfen. Es ist der Versuch den Großvater, den despotischen Vater und sich selber zu verstehen, ohne zu beschönigen.
Ein ausgesprochen wichtiges Buch, gerade in Zeiten, in denen ein Rechtsruck durch so viele Nationen geht und in Italien Georgia Meloni regiert. Doch nicht nur deswegen halte ich dieses Werk für besonders aktuell, sondern auch, weil es dazu herausfordert genau hinzusehen und sich zu fragen: Woher komme ich und wo will ich hin? In welcher Welt wollen wir leben?
Fazit: Unbedingt lesenswert!
Michela Marzano, Jahrgang 1970, lebt in Paris und lehrt an der Université Paris Descartes Moralphilosophie. Für Falls ich da war, habe ich nichts gesehen, wurde sie mit dem Prenio Mondello ausgezeichnet.
Falls ich da war, habe ich nichts gesehen Autorin: Michela Marzano Übersetzerin: Lina Robertz Verlag: Eichborn Veröffentlichung: 25.08.2023 ISBN: 978-3-8479-0150-1 Preis: 24,00 €
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Hamburg Noir – Herausg. Jan Karsten
Hamburger Autoren und Autorinnen erzählen Geschichten, die in ihrer Stadt spielen. Sie gehen in die dunklen Ecken und zeigen, dass auch im hellen und glänzenden Harvesthude, Wedel, Blankenese und an der Elbchaussee, das Dunkle durchaus präsent ist. Im Vorwort zitiert der Herausgeber Jan Kasten Heinrich Heine, der einmal über Hamburg sagte:
Hamburg ist am Tage eine große Rechenstube und in der Nacht ein großes Bordell
Man könnte sagen, dass sich die Geschichten zwischen diesen Polen bewegen. Ob es nun Nora Luttmers vietnamesische Bistrobetreiberin in Rothenburgsort ist, die auf ihre Art mit Schutzgelderpressern umgeht oder Ingvar Ambjørnsens Spaziergänger, der sich am Ring 2 zwischen einer versiffter Kellerkneipe, „in der er mit sich alleine trinkt“, und hipper Weinbar bewegt und dabei über Leben und Tod sinniert oder Zoë Becks Jachtbesitzer, der seinen Anwalt braucht, da ein Segler in seiner Schiffsschrauber zerschreddert wurde. Alle sind sie da. Die die ganz oben, die die auf dem Weg nach unten oder oben sind und die, für die es nicht mehr tiefer geht. Ein Stadtbummel der besonderen Art und für mich, als Ex-Hamburgerin, eine große Freude viele vertraute Ecken wieder zu entdecken. Doch man muss Hamburg nicht kennen, um die Geschichten zu schätzen. Aber ich kann versprechen, wer es auf diese literarische Art entdeckt, wird Lust bekommen, es sich live und in Farbe anzusehen.
Hamburg ist das vierte Buch in der Noir Reihe des Culturverlags und macht große Lust, sich auch die anderen einmal genauer anzusehen.Hamburg Noir Herausg. Jan Karsten Verlag: Culturbooks ISBN: 978-3-95988187-6 Preis: 18,00 €
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Der Klopapierkönig von Maria Ernestam
Da hat der verantwortungsvolle Verwaltungsbeamte Ejnar Svensson einmal nicht aufgepasst und statt vier Pakete Klopaier, werden vier Lastwagenlandungen in die Kleinstadt Valleras geliefert. Zu allem Überfluss nicht einmal das weiche mehrlagige, sondern das graue einlagige. Bürgermeister und Gemeinderat sind sich einig: Kann mal passieren. Nun haben wir es, nun wird es auch aufgebraucht! Damit wäre die Sache erledigt gewesen, wäre nicht die Presse aufmerksam geworden und begeistert darauf reagiert hätte, wie vorausschauend und umweltbewusst Ejnar bereits gedacht hat, als Umwelt noch gar nicht so sehr Thema war. Erst ist es nur national Thema, aber so nach und nach geht die Geschichte viral und Ejnar, der nichts wollte, als gemütlich in seinem Büro sitzen und seine Arbeit machen, wird zum weltweitem Medienstar, zum Klopapierkönig, Widerwillen.
Ein kleines feines Buch hat Maria Ernestam da verfasst. Sie lässt den Bürgermeister von Valleras die Geschichte erzählen. Einem Ex-Politiker, der sich eigentlich zur Ruhe setzen wollte und es im Gegensatz zu Ejnar liebt, im Rampenlicht zu stehen, auch wenn er immer wieder beteuert, dass es ja nicht um ihn, sondern ums Gemeinwohl geht.
Ein feines kleines Büchlein, das sehr viel mehr ist, als eine amüsante Satire.
Der Klopapierkönig Autorin: Maria Ernestam Übersetzerin: Gabriele Haefs Verlag: btb ISBN: 978-3-442-77321-3 Preis 12,00 €
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Es schneite
Heute morgen sah es noch einmal winterlich im Garten aus. Komischerweise habe ich mich darüber gefreut, über so einen letzten Wintergruß. Vielleicht habe ich mich auch darüber gefreut, weil ich von einer warmen Bude aus auf das Ganze guckte. In der alten Wohnung war ich von so einem Winterrückfall immer eher genervt, weil es bedeutete noch länger Ofen anschmeissen und kaltes Klo.
Meinen Tulpen schien die Schneedecke nicht auszumachen. Ich bin wirklich gespannt, ob sie blühen werden oder nur grün wachsen. Es ist mein erster Versuch Tulpen in einem Blumentopf zu ziehen.
Ansonsten geht alles seinen Gang. Gleich werde ich einen Spaziergang machen und danach geht es ins Wolkenkukusheim zu meinen Leute und deren Geschichten.
Gestern kamen einige neue Bücher an, die ich rezensieren soll. So eine Fülle, ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll. Gut jedenfalls das Apoll Besobrasow von Boris Poplawski ausgelesen habe und im Bücherblog darüber geschrieben habe.
So, nun aber eine kleine Runde und dann schreiben.
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Zweckfreie Kuchenanwendungen von Yeoh Jo-Ann
Sukhin hat es als Soziophobiker in seinem Beruf als Lehrer und auch sonst nicht. Er möchte am liebsten in Ruhe gelassen werden, sein Leben leben, die Kartonsammlung seiner Eltern abstauben und lesen. Eigentlich hat er nur einen Freund, das aber nur, weil dieser sich einfach nicht vertreiben lässt.
Eines Tages nun geht Sukhin in Chinatown für die die Fakultätsparty zum Chinesischen Neujahrsfest einkaufen und rennt, überfordert von den Menschen und dem Angebot, die Pappkartonwohnung einer Obdachlosen um und erkennt in ihr Jinn, mit der vor fast zehn Jahren eine Beziehung hatte. Eine zaghafte Annäherung beginnt und nach und nach schafft er es, das Jinn ihm ihre Geschichte erzählt und ihn an ihrem Leben, das trotz Obdachlosigkeit sehr erfüllt ist, teilhaben lässt.
Schon der Titel des Buches ist einfach hinreißend und die Geschichte so wundervoll erzählt, dass man sich nach dem letzten Wort wünscht, man könnte noch ein wenig länger mit Sukhin und Jinn durch Singapore streifen. Yeoh Jo-Ann ist sicher eine Autorin, die man im Auge behalten sollte. Sehr gefallen hat mir auch, dass sie ein Gedicht von Cyril Wong in der Geschichte untergebracht hat.
Übersetzerin: Gabriele Haefs
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Rückkehr von Anne B. Ragde
Mit dem Lügenhaus begann Anne B. Ragdes Geschichte über die Familie Neshov und von Torunn, der Anerbin des Hofes. Mittlerweile gibt es 6. Bände über die Familie Neshov und mit Rückkehr schließt Anne B. Ragde die Serie.
Ich habe alle sechs Bücher gelesen. Die ersten drei mit Begeisterung, den 4. Teil eher aus Liebe zu den Charakteren, beim 5. Teil wurde es wieder besser und beim 6. habe ich zu meiner alten Begeisterung zurückgefunden … aber die Etnscheidung, die Reihe hier enden zu lassen, finde ich richtig. Torunn Breiseith hat sich gefunden, die Lügen der Familie sind auf den Tisch gekommen. Kurz, es ist Ruhe eingekehrt.
Übersetzung aus dem Norwegischen: Gabriele Haefs
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Und jetzt ist Schluss von Christine Lehmann
Ruth ist seit einanhalb Stunden tot und hält von dieser Warte aus Rückschau auf ihr Leben. Ihre Kindheit als Scheidungskind in den dreißiger Jahren in Halle, ihre zwangsweise Flucht aus der DDR in den Westen, wo sie Markus trifft, der ebenfalls eher unfreiwillig die DDR verlassen musste. Ihre Ehe die in Genf beginnt und die beruflich bedingten Umzüge, Markus ist Journalist, um schließlich über Hamburg in Stuttgart zu laden. Markus beruflichen Erfolge, während Ruth, die ihr Studium abgebrochen hat, darunter leidet, auf Haushalt und Kinder reduziert zu sein, nicht wirklich gesehen zu werden. Die beiden Töchter, das ständige Kochen und ihrem Mann den Rücken freihalten, sind ihr lange nicht genug. Auch das Kontakthalten mit der Ostverwandschaft ist in einem geteilten Land schwierig und die Missverständnisse, die aus den verschiedenen Lebensgrundlagen resultieren, belasten doch sehr.
Christine Lehmann erzählt die Geschichte von Ruth, Markus, Hanna und Eva anhand von Erinnerungen, denn es unschwer zu erkennen, dass die Familie und vor allem der Lebensweg von Hanna, dem der Autorin gleicht. Chrstine Lehmann gibt Ruth mit der Möglichkeit ihr Leben zu zählen, eine Bühne, die sie im Leben nicht hatte. Das angenehme ist, dass sie, was bei dieser Autorin auch nicht zu erwarten war, nicht im „Mama war die Beste, Liebste, Wunderbarste“ Sumpf watet, sondern versucht der Frau gerecht zu werden, in dem sie sie nicht als ideal der Mutterschaft schildert, sondern als Person, die voller Widersprüche, so einigen nicht so angenehmen Seiten und voller Neugier und einem klaren Blick auf die Welt ist.
Dadurch, dass Ruths Retrospektive durch Briefe und Brieffragmenten der Familie Ost und West, von Zeitgenossen und Freunden und Eltern und Töchtern angereichert ist, entsteht ein sehr komplexes Bild der letzten 90 Jahre.
Ein unbedingte Leseempfehlung!